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EU-Renaturierungsgesetz: Europas größter Naturschutzinitiative droht die Bruchlandung

Bis 2030 will die EU ein Fünftel der europäischen Landfläche renaturieren. Was dem Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen dienen soll, droht an einer rechtskonservativen Allianz zu scheitern.
Entwässerungsgraben in einem Feld in Mecklenburg-Vorpommern
Entwässerungsgraben in einem Feld in Mecklenburg-Vorpommern. Gegner der geplanten Verordnung fordern unter anderem, landwirtschaftliche Flächen auszuschließen.

Die Worte konnten gar nicht groß genug sein, um das Vorhaben zu beschreiben. Es gehe um nicht weniger als die »Versöhnung mit dem Planeten«, sagte EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, als sie gleich zu Beginn ihrer Amtszeit den europäischen Green Deal vorstellte. Bis 2050 solle Europa klimaneutral wirtschaften, nachhaltig konsumieren, ökologisch produzieren und seine Natur schützen. »Das ist Europas ›Mann auf dem Mond‹-Moment«, formulierte die Kommissionspräsidentin gewohnt pathetisch. Die ökologische Transformation von 27 Industriestaaten mit mehr als 400 Millionen Einwohnern – in der Tat eine historische Mammutaufgabe.

Gut drei Jahre nach von der Leyens Ausrufung der grünen Zeitenwende droht dem Projekt nun die Bruchlandung. Bereits jetzt wurde der naturfreundliche Umbau der Landwirtschaft mit Hilfe neuer Förderregeln aus dem milliardenschweren Subventionstopf der Gemeinsamen Agrarpolitik (GAP) um sieben Jahre verschoben. Nun könnte auch das ökologische Kernstück des Green Deals scheitern: die Renaturierungsverordnung.

Widerstand dagegen kommt aus den Reihen der konservativen und rechtspopulistischen Parteien des EU-Parlaments. Gemeinsam mit Lobbyorganisationen haben sie eine Allianz gebildet, mit dem Ziel, das Vorhaben zu Fall zu bringen. Federführend dabei ist die konservative EVP-Fraktion im Europaparlament unter ihrem Vorsitzenden Manfred Weber (CSU).

Auf der Kippe steht das ambitionierteste Vorhaben seit Jahrzehnten

Verhindern wollen sie nichts weniger als das ambitionierteste Naturschutzvorhaben der EU seit Jahrzehnten. Durch die meist als »Restoration Law« oder Renaturierungsgesetz bezeichnete Initiative sollen bis 2030, also in nur sieben Jahren, geschädigte Ökosysteme auf 20 Prozent der Fläche der Europäischen Union »ökologisch wiederhergestellt« werden. Das entspricht einem Öko-Booster für geschundene Naturräume auf einer Fläche von deutlich mehr als der doppelten Größe Deutschlands. Bis 2050 müssen dem Entwurf zufolge dann sogar alle Ökosysteme in Europa wieder in einem ökologisch gesunden Zustand sein.

Dass ein großer Wurf für den Naturschutz bitter nötig ist, zeigt ein aktueller Bericht der Europäischen Umweltagentur (EEA). Danach befinden sich mehr als 80 Prozent der besonders wertvollen Lebensräume, rund die Hälfte der Vogelarten darin und mehr als 60 Prozent der anderen geschützten Tier- und Pflanzenarten in einem schlechten oder sehr schlechten Zustand. Viele werden in naher Zukunft aussterben, wenn in der größten Biodiversitätskrise seit Bestehen der Menschheit nicht gegengesteuert wird. »Die Gesundheit der europäischen Natur ist in Gefahr«, warnen die EEA-Experten. »Es sind viel größere Anstrengungen erforderlich, um die derzeitigen Trends umzukehren und eine widerstandsfähige und gesunde Natur zu gewährleisten.«

Diesen Schub für die Natur wollte von der Leyens EU-Kommission nun eigentlich geben. In den Genuss gezielter ökologischer Wiederbelebungsmaßnahmen sollen dabei alle Arten von Lebensräumen kommen: Wälder, Moore und Grünland ebenso wie Seegraswiesen, Flüsse und Auen. Aber auch städtisches Grün und Agrarland sollen Teil der Renaturierungsoffensive werden.

Bei der konkreten Umsetzung bleibt den Regierungen der Mitgliedsländer viel Spielraum. Allerdings sollen verbindliche quantitative Vorgaben für einzelne Lebensräume dafür sorgen, dass alle ökologisch besonders wichtigen Habitate profitieren. So ist festgelegt, dass bis 2030 in Europa Flüsse wieder auf einer Länge von mindestens 25 000 Kilometern frei fließen und Meeresböden und Seegraswiesen wieder als Kinderstube für Fische funktionieren. Um Städte selbst bei weiter steigenden Temperaturen lebenswert zu erhalten, ist vorgegeben, dass bis 2030 mindestens zehn Prozent der Fläche in urbanen Räumen von einem kühlenden und erfrischenden Blätterdach bedeckt sein muss.

Nicht immer bedeutet Renaturierung aktives Eingreifen, etwa um Stauwehre an Flüssen zu beseitigen oder Entwässerungsgräben in Mooren und Wiesen zu verschließen. In Wäldern beispielsweise ist es oft am besten, die Natur in Ruhe zu lassen und ökologische Prozesse wie das Absterben von Bäumen zuzulassen – auch diese »passive Renaturierung« sieht die Verordnung vor.

Im Hintergrund steht das Weltnaturschutzabkommen

Das Gesetz ist die Antwort der Brüsseler Kommission auf internationale Verpflichtungen, vor allem auf das UN-Naturschutzabkommen. Im kanadischen Montreal hatten sich die Staaten der Erde verpflichtet, bis 2030 jeweils 30 Prozent der Land- und der Meeresfläche des Planeten unter einen wirksamen Schutz zu stellen und einen ebenso großen Teil geschädigter Ökosysteme zu renaturieren. Die EU hatte sich in Montreal für ihren eigenen Renaturierungsplan als internationaler Vorreiter feiern lassen. »Wir gehen hier mit gutem Beispiel voran und hoffen, dass die anderen folgen«, hatte EU-Umweltkommissar Virginijus Sinkevičius in Montreal erklärt.

Ob das Eigenlob voreilig war, wird sich in den nächsten Wochen herausstellen. Denn gegen das Gesetz hat sich in den letzten Monaten ein so großer Widerstand formiert, dass inzwischen sogar ein Scheitern des Vorhabens denkbar ist. Der Christdemokrat Weber und die von ihm angeführte EVP-Fraktion fordern eine komplette Rücknahme der Initiative. Unterstützung erhalten sie dabei von rechtspopulistischen und rechtsradikalen Parteien sowie Interessenvertretungen der Land- und Forstwirtschaft. Mit den Stimmen des konservativ-rechten Lagers wurde die Verordnung bereits in den Parlamentsausschüssen für Landwirtschaft und Fischerei abgelehnt. Einen vorläufigen Höhepunkt erreichte der Streit vor wenigen Tagen mit dem Auszug der Konservativen aus dem für das Vorhaben maßgeblichen Umweltausschuss.

Kritiker fordern eine Ausnahme für Agrarflächen

EVP-Unterhändlerin Christine Schneider (CDU) begründete den Abbruch der Verhandlungen mit unüberbrückbaren Differenzen über die Regelung. Komme das Gesetz wie vorgeschlagen, würde dies zu einem Rückgang der Agrarflächen in Europa führen und damit die Ernährungssicherheit und die Bezahlbarkeit von Lebensmitteln gefährden, erklärte sie. Die EVP plädiert darum für die Ausklammerung von landwirtschaftlichen Flächen und eine Begrenzung der Renaturierungen auf bereits bestehende Schutzgebiete. Nach Berechnungen der Grünen-Fraktion im Europaparlament würden damit allerdings statt 20 weniger als 2 Prozent der Flächen ökologisch wiederbelebt.

»Wenn die Natur weiterhin die europäische Ernährungssicherheit unterstützen soll, muss die EU ihr Gesetz zur Wiederherstellung der Natur verabschieden und umsetzen«offener Brief von 160 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern

Auch Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler weisen die Argumente der Konservativen zurück. Gerade die ökologische Krise in der Agrarlandschaft gefährde die Ernährungssicherheit in Europa, und nur eine rasche Wende könne negative Folgen für die Lebensmittelpreise verhindern, betonen mehr als 160 Wissenschaftler aus aller Welt in einer gemeinsamen Erklärung für die Umsetzung der Reform. Ein fortschreitender Verlust der biologischen Vielfalt, etwa von Vögeln und Insekten, führe ebenfalls zu weiteren Verschlechterungen bei Bestäubung, Bodengesundheit und natürlicher Schädlingsbekämpfung, argumentieren sie.

»Wenn die EU die Gesundheit, Produktivität und Widerstandsfähigkeit ihrer Böden … wiederherstellen will und die Natur weiterhin die europäische Ernährungssicherheit, die Beschäftigung, die Abschwächung des Klimawandels und die Wirtschaft unterstützen soll, muss sie ihr Gesetz zur Wiederherstellung der Natur verabschieden und umsetzen«, heißt es in dem Appell.

Renaturierungsprojekt an der Emscher-Mündung | Die Baustelle bei Dinslaken lässt noch nicht erahnen, dass hier bald ein neu geschaffenes Auengebiet den Flussbewohnern den Übergang in die Emscher erlauben soll. Im Hintergrund das stillgelegte Kohlekraftwerk Voerde.

Eine vor Kurzem veröffentlichte Studie kommt sogar zu dem dramatischen Ergebnis, dass der Insektenschwund schon heute in jedem Jahr indirekt hunderttausende Menschen weltweit das Leben kostet, weil aus Mangel an Bestäubern weniger Obst und Gemüse erzeugt wird, was die Preise in die Höhe treibt. Zudem entstünden durch die Mangelernährung Krankheitskosten für die Gesellschaften in Milliardenhöhe.

Ein Scheitern würde dem internationalen Naturschutz schaden

Die grüne Europaabgeordnete Jutta Paulus warnt vor den weltweiten Auswirkungen, die ein Scheitern hätte. »Wenn das Gesetz verhindert wird, ist auch die Umsetzung des Montreal-Abkommens tot«, sagt sie mit Blick auf den globalen Kompromiss, bei dessen Implementierung die EU leuchtendes Vorbild sein wollte. »Dann sendet Europa international das fatale Signal, dass wir nicht mal ein Jahr nach Montreal bei uns die Umsetzung verweigern.« Mit dieser Botschaft könne von Ländern wie Brasilien kaum gefordert werden, den Amazonas zu schützen.

Die Zukunft des Gesetzes entscheidet sich in diesen Wochen. Der Umweltausschuss des Europaparlaments, den die rechtskonservative Allianz verlassen hatte, stimmt Mitte Juni über den Gesetzesentwurf ab. Kurz darauf kommen die Umweltministerinnen und -minister der EU-Staaten in Luxemburg zur entscheidenden Abstimmung zusammen. Im Juli schließlich steht die Abstimmung im Plenum des Parlaments an.

EVP und Rechtspopulisten allein können dort mit ihren Stimmen das Gesetz nicht zu Fall zu bringen. Aber auch in anderen Fraktionen, darunter den Liberalen, gibt es kritische Stimmen. Grüne, Linke und Sozialdemokraten unterstützen das Vorhaben.

Viele Augen in Europa richten sich in der verfahrenen Lage nach Deutschland. »Die Haltung Deutschlands ist im Augenblick sehr unklar«, sagt der Europadirektor des Naturschutz-Dachverbands BirdLife International Ariel Brunner mit Blick auf die Spannungen innerhalb der Ampelkoalition. »Wir brauchen Deutschland aber dringend als starke Stimme – die Bundesregierung muss sich laut und deutlich für das Gesetz aussprechen, um es zu retten«, fordert er.

Für den Juli wird ein Showdown erwartet

Auch die großen deutschen Umweltverbände sind alarmiert. »Die Gefahr des Scheiterns ist angesichts der Kampagne von Konservativen und Rechtsextremen im Europäischen Parlament real, und bereits eine Enthaltung Deutschlands im Umweltministerrat würde das Aus des Vorhabens bedeuten«, warnen die Vorsitzenden von NABU, WWF, Greenpeace, BUND und Deutscher Umwelthilfe in einem gemeinsamen Brandbrief an Bundeskanzler Olaf Scholz, der »Spektrum.de« vorliegt. »Dies wäre ebenso fatal für die Glaubwürdigkeit Deutschlands und Europas in der Welt, wie es tragisch wäre für die künftigen Generationen.«

So scheint alles auf einen Showdown hinauszulaufen. Der zuständige EU-Vizepräsident Frans Timmermans machte bereits klar, dass die Kommission an ihrem Entwurf festhalten wird. Einen Rückzieher kann sie sich kaum leisten. Denn scheitert das Renaturierungsgesetz, wackelt auch das ganz große Ziel der EU, bis 2050 klimaneutral zu werden – dann stünde gleich die Einhaltung des Pariser Klimaabkommens durch die Staaten Europas in Frage.

Denn das Naturschutzpaket ist ein zentraler Baustein der Klimaschutzstrategie und damit des Ziels, die 1,5-Grad-Grenze aus dem Pariser Klimaabkommen wenigstens in Reichweite zu halten. Natürliche Ökosysteme absorbieren derzeit mehr als die Hälfte des vom Menschen verursachten Treibhausgasausstoßes. Geschädigte Wälder und zu Ackerland umgebrochene Moorböden dagegen verwandeln sich in riesige Treibhausgasschleudern. Allein in Deutschland steuern die zur landwirtschaftlichen Nutzung entwässerten Moorböden Jahr für Jahr 7,5 Prozent aller Treibhausgasemissionen bei. Die Renaturierung von Mooren ist deshalb auch einer der Schwerpunkte der EU-Naturverordnung und des unlängst auf den Weg gebrachten Aktionsprogramms Natürlicher Klimaschutz.

Wie die Entscheidung ausgeht, ist auch für langjährige Kenner der Brüsseler Szene offen

»Der Verlust der Biodiversität und der Klimawandel verstärken sich gegenseitig, und man kann das eine nicht ohne das andere retten«, warnt EU-Kommissionsvize Timmermans die Gegner des Naturabkommens. Klima- und Naturgesetzgebung seien daher »ein zusammenhängendes Paket von Lösungen – wenn ein Teil fällt, fallen auch die anderen Teile«.

Umweltministerin Lemke konnte sich durchsetzen

Auch Umweltkommissar Virginijus Sinkevičius hält das Naturschutzpaket für ebenso wichtig wie das schon verabschiedete Gesetz zur Klimaneutralität bis 2050. »Wir können die Emissionen auf null verringern«, sagte er dem britischen »Guardian«. »Aber wenn sich die Ökosysteme verschlechtern, wenn sich die Böden verschlechtern, wenn sich unsere Wälder und Meeresökosysteme verschlechtern, dann sind sie nicht in der Lage, Kohlenstoff zu absorbieren oder die Hitze abzumildern.«

Wie die Entscheidung ausgeht, ist auch für langjährige Kenner der Brüsseler Szene offen. Die Grünen-Politikerin Paulus bangt insbesondere um eine Mehrheit in der Plenumsentscheidung im Juli.

In einer zentralen Frage gibt es aber seit ein paar Tagen Klarheit: Bei der Abstimmung der EU-Umweltministerinnen und -minister wird Deutschland der Verordnung zustimmen, wie »Spektrum.de« vorab erfuhr. Diese Entscheidung werde den europäischen Partnern am Dienstag (6. Juni) offiziell mitgeteilt.

Ein Votum pro Naturschutzgesetz der Ampelregierung kann als wichtiger Erfolg von Umweltministerin Steffi Lemke (Grüne) gelten. Denn nicht nur die FDP stand zeitweise auf der Bremse. Auch das Bundeswirtschaftsministerium des Grünen-Vizekanzlers Robert Habeck machte Bedenken geltend – aus Furcht, das Gesetz könne den weiteren Ausbau der Windenergie bremsen. Ausgerechnet im Kampf für erneuerbare Energien aber durch eine erzwungene Enthaltung für einen massiven Rückschlag der gesamten EU-Klimapolitik mitverantwortlich gemacht werden – das wollte der Grünen-Politiker dann wohl doch nicht.

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