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»Philosophie der Lüge«: Lügen haben eine lange Geschichte

»Philosophie der Lüge« fasst die historische Diskussion um Lügen und Wahrhaftigkeit verständlich zusammen und zieht auch Leser ohne philosophisches Vorwissen unweigerlich in den Bann. Eine Rezension.
Münchhausens Ritt auf der Kanonkugel

Über die Lügengeschichten des Barons von Münchhausen lachen wir gern. Doch wie wäre es wohl, mit diesem befreundet oder gar selbst ein »Münchhausen« zu sein? Das Lügen ist eine urmenschliche Fähigkeit. Die Gründe fürs Lügen sind ganz unterschiedlich, genau wie die Auswirkungen auf den Belogenen und den Schwindler selbst. Lars Svendsen, Professor für Philosophie an der Universität Bergen, geht diesen Zusammenhängen auf den Grund.

Sein Werk ist in sechs Kapitel aufgeteilt. Zunächst stellt der norwegische Philosoph die Frage: Was ist eine Lüge? Schnell wird klar, dass es nicht genügt, eine Tatsache zu äußern, die nicht mit der Realität übereinstimmt. Denn der Sprecher selbst könnte einem Irrtum unterliegen. Streng genommen sind auch Münchhausens Geschichten keine Lügen, da sie in dem Wissen vorgetragen werden, dass niemand ihnen Glauben schenkt.

In geradezu sokratischer Art bietet der Svendsen immer wieder Definitionen an, an die er verschiedene Fragen richtet und die er mit Beispielen prüft. Dabei kommt er zu Einsichten, die so manchen Leser überraschen dürften. So habe die Entscheidung, ob es sich bei einer Aussage um eine Lüge handelt oder nicht, nichts mit der Wahrheit dieser Aussage zu tun. Beispielsweise ist es denkbar, dass jemand einem Politiker eine Affäre andichtet, um ihm zu schaden. Jahre später gibt der Politiker tatsächlich zu, eine Affäre gehabt zu haben. Dennoch hat die Person gelogen, wenn sie nichts davon wusste. Eine Lüge besteht also dann, wenn man bewusst etwas sagt, von dem man annimmt, dass es falsch ist.

Im zweiten Kapitel bespricht der Autor die verschiedenen Positionen berühmter ethischer Schulen zum Thema Lügen. Er beschreibt verständlich, manchmal auch etwas reduktionistisch, die Theorien der wichtigsten historischen Vertreter. Er selbst nimmt eine nüchterne Zwischenposition ein und gibt keine direkten Handlungsanweisungen. An vielen Stellen nuanciert er die moralische Bewertung. So bestätigt er das intuitive Gefühl, dass etwa kleine »Notlügen« zwar moralisch falsch sind, jedoch wesentlich weniger schwer wiegen als Lügen, die beispielsweise einen anderen Menschen in Gefahr bringen.

Auch die weit verbreitete »Selbstlüge« bespricht der Autor. Er weist auf die Gefahr hin, dass Menschen, die sich selbst belügen, häufig auch unehrlich gegenüber anderen sind. Es folgen Kapitel zur Rolle von Lügen in der Politik und zur Problematik von Lügen in Freundschaften und Beziehungen. Zu guter Letzt bespricht Svendsen noch die Perspektive der Menschen, die belogen werden.

Wahrhaftigkeit als Gegenteil der Lüge

Das Werk bespricht das Thema Lüge umfassend. Kaum eine historisch bedeutsame Position bleibt unerwähnt. Besonders interessant sind die Ausführungen des Autors, wenn er vom vermeintlichen Gegenteil der Lüge spricht: der Wahrhaftigkeit. Hier übernimmt er weitestgehend die Standpunkte des britischen Ethikers Bernard Williams (1929-2003). Dieser stellte die Theorie auf, dass zwei Tugenden die Wahrhaftigkeit einer Person bestimmen: die Aufrichtigkeit (die Intention, das Richtige zu sagen) und die Genauigkeit (das Bestreben, den Wahrheitsgehalt der eigenen Aussage zu prüfen).

»Philosophie der Lüge« ist ein schöner Übersichtsband für Leser ohne philosophische Vorbildung. Svendsen fasst die historische Diskussion verständlich zusammen und stellt aktuelle Bezüge her, etwa indem er auf einen US-amerikanischen Lügenbaron mit komischer Frisur verweist (Donald Trump). Der Stil Autors ist höchst philosophisch und zieht den Leser in seinen Bann, indem er in diesem immer wieder den Wunsch weckt, das nächste Gegenargument zu hören. Eine solche Lust an einer philosophischen Betrachtung entwickeln nicht viele Werke.

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