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Lexikon der Mathematik: Nichtstandard-Analysis

Die Nichtstandard-Analysis ist eine Verfeinerung der (klassischen) Analysis, eingeführt von Robinson im Hinblick auf eine widerspruchsfreie Realilogie sierung von infinitesimalen und unendlichen Zahlen im Sinne von Leibniz.

Diese Möglichkeit eröffnet sich z. B. auf Grund des Kompaktheitssatzes der Modelltheorie von Sprachen erster Stufe wie folgt. Man faßt die Struktur ℝ der reellen Zahlen so auf, daß sie mindestens die Formel x < y, also alle Formeln der Form \(\mathop{0}\limits_{\_}\lt K,\mathop{1}\limits_{\_}\lt K,\mathrm{...},\mathop{n}\limits_{\_}\lt K,\mathrm{...}\) interpretiert, wobei \(\mathop{0}\limits_{\_},\mathop{1}\limits_{\_},\mathrm{...},\mathop{n}\limits_{\_},\mathrm{...}\) Konstanten für die entsprechenden natürlichen Zahlen sind, und K eine darunter nicht vorkommende Konstante sei.

In solch einer Struktur gelten (höchstens) endlich viele der oben angegebenen Formeln. Zusätzlich kann man noch alle weiteren in ℝ gültigen Sätze der Analysis in Betracht ziehen, die sich in der vorliegenden Sprache erster Stufe mit Parametern in ℝ ohne die Konstante K formulieren lassen.

Man kann nun erreichen, daß jede beliebig fest vorgegebene endliche Menge von solchen Sätzen und Formeln aus \(\mathop{0}\limits_{\_}\lt K,\mathop{1}\limits_{\_}\lt K,\mathrm{...},\mathop{n}\limits_{\_}\lt K,\mathrm{...}\) erfüllt wird in ℝ, indem man die Interpretation von K in ℝ genügend groß wählt bzgl. „ < “. (Die natürlichen Interpretationen der Konstanten \(\mathop{0}\limits_{\_},\mathop{1}\limits_{\_},\mathrm{...},\mathop{n}\limits_{\_}\mathrm{...}\) werden festgehalten.) Mit dem Kompaktheitssatz folgt dann, daß überhaupt alle die Sätze ohne K und alle Formeln \(\mathop{0}\limits_{\_}\lt K,\mathop{1}\limits_{\_}\lt K,\mathrm{...},\mathop{n}\limits_{\_}\lt K,\mathrm{...}\) gleichzeitig erfüllbar sind in geeigneten Strukturen. Die Interpretation von K in einer solchen Struktur * ist ein Beispiel für eine unendlich große Nichtstandard-Zahl. Die Strukturen * heißen Nichtstandard-Erweiterungen von . Es sind sogar elementare Erweiterungen \({\mathbb{R}}\mathop{\prec }\limits_{\_}{\mathbb{R}}* \) in dem Sinne, daß in ℝ und ℝ* dieselben Formeln mit Parametern aus ℝ gelten. Dieser Sachverhalt heißt auch Transferprinzip. Die Elemente aus r ∈ ℝ, aufgefaßt als Elemente von ℝ*, heißen standard und werden mit r* bezeichnet.

Eine Zahl s ∈ ℝ heißt infinitesimal, kurz s ∼ 0, falls sie für alle standard r, r′ mit r < 0 und 0 < r′ die Bedingung r < s < r′ erfüllt.

Jede endlichstellige Relation R oder endlichstellige (partielle) Funktion f über ℝ hat über ℝ* ihre eindeutig festgelegte Interpretation ℝ* bzw. f*. Ist z. B. f : ℝ\{0} → ℝ die Funktion f (x) = 1/x, so ist f*(K) ≠ 0 aufgrund des Transferprinzips infinitesimal für eine unendliche Nichtstandard-Zahl K.

Der Teilmenge der natürlichen Zahlen ℕ ⊂ ℝ entspricht die Teilmenge ℕ* ⊂ ℝ* der hypernatürlichen Zahlen in ℝ*. Damit gilt ℕ ⊂ ℕ*, und ℕ* enthält unendliche natürliche Zahlen, d. h. Elemente die größer sind (bzgl. <) als alle natürlichen Standard-Zahlen: Da in ℝ jede reelle Zahl durch passende natürliche Zahlen der Größe nach geschlagen werden kann, gilt dies nach dem Transferprinzip auch für unendlich große positive reelle Nichtstandard-Zahlen K. Die unendlichen natürlichen Zahlen heißen auch *-endlich.

In Anlehnung an die ursprüngliche Intention definiert man den Begriff der Monade eines Elementes x von ℝ* als \begin{eqnarray}\{y\in {\mathbb{R}}^* |y-x\sim 0\}\end{eqnarray} (Nichtstandard-Topologie). Die Monade von 0 ist damit die Menge der infinitesimalen Elemente.

Eine reelle Nichtstandard-Zahl s heißt endlich, falls sie − r < s < r erfüllt für eine Standard-Zahl r ∈ ℝ, d. h., s liegt in einem durch Standard-Zahlen begrenzten Intervall.

Es gilt der Satz:

Zu jedem endlichen x ∈ ℝ* existiert eine eindeutig bestimmte Standard-Zahl °x in der Monade von x. °x heißt der Standardteil von x.

Bezeichnet man die Menge der endlichen Zahlen aus*mit E so ist E ein Ring bzgl. der Operationen +* und ·*, eingeschränkt auf E, und die Abbildung ° : E → ℝ ist ein surjektiver Ringhomorphismus mit der Monade von 0 als Kern.

Mit den soweit bereitgestellten Mitteln lassen sich nun klassische Grundbegriffe der Analysis durch intuitive Nichtstandard-Beschreibungen charakterisieren. Wir behandeln zunächst die Konvergenz von reellen Zahlenfolgen, die Stetigkeit von Funktionen und die Differenzierbarkeit.

Es sei a : ℕ → ℝ mit ℕ ∋ n → an ∈ ℝ eine reelle Zahlenfolge. Ihre Interpretation über * sei durch * ∋ v → (a*)v ∈ ℝ* gegeben. Dann gilt der Satz:

Die Folge {an}n∈ℕkonvergiert gegen b ∈ ℝ genau dann, wenn für alle unendlichen ω ∈ ℕ*die (a*)ω endlich sind und °((a*)ω) = b erfüllen.

Im Zusammenhang mit dem Stetigkeitsbegriff gilt der Satz:

Ist f : I → ℝ eine reelle Funktion über und I ein beliebiges Intervall, dann gilt:

  • F ist stetig in a ∈ I genau dann, wenn alle x ∈ I*mit x ∼ a erfüllen: f* (x) ∼ f(*) (a).
  • F ist gleichmäßig stetig auf I genau dann, wenn alle x, y ∈ I*mit x ∼ y erfüllen: f*(x) ∼ f*(y).

Für die Differenzierbarkeit gilt:

Die reelle Funktion f : I → ℝ ist im Punkte a des offenen Intervalls I differenzierbar mit Differentialquotient \(\frac{df}{dx}(a)=b\in {\mathbb{R}}\) genau dann, wenn für alle infinitesimalen Δx ≠ 0 gilt \begin{eqnarray}\displaystyle\frac{{f}^{\ast }(a+\Delta x)-f(a)}{\Delta x}\sim b.\end{eqnarray}

Zur Behandlung von komplexeren Sachverhalten muß man die bisher benützte Struktur ℝ und die dazu passenden formalen Sprachen erster Stufe so ergänzen, daß man die Quantoren nicht nur auf die reellen Zahlen selbst, sondern auch auf (Teil-) Mengen, Relationen und (partielle) Funktionen usw. beziehen kann. Dazu ersetzt man ℝ durch eine Obermenge \({\mathbb{M}}\) welche ℝ und ihre Potenzmenge \({\mathfrak{P}}\)( ℝ) enthält, sowie die entsprechenden Mengen von Relationen und Funktionen umfaßt. Die zugehörige Sprache erster Stufe soll u. a. auch das 2-stellige Grundprädikat \(\varepsilon \) enthalten, welches dann in \({\mathbb{M}}\) durch die die Elementbeziehung xy interpretiert wird. Um die Obermenge \({\mathbb{M}}\) nicht immer ad hoc wählen zu müssen, genügt es für viele Zwecke, die Superstruktur \(V({\mathbb{R}})\) zu benutzen, die für eine unendliche Menge S allgemein wie folgt definiert wird: \begin{eqnarray}{V}_{1}(S)=S,\cdots, {V}_{n+1}(S)={\mathfrak{P}}({V}_{n}(S)),\cdots V(S):=\mathop{\bigcup {_{n\in {\mathbb{N}}}}}{V}_{n}(S).\end{eqnarray} Die zusammengesetzte Erweiterung \begin{eqnarray}\begin{array}{ll}V(S)=\mathop{\bigcup {_{n\in {\mathbb{N}}}}}{V}_{n}(S) & \subset \mathop{\bigcup {_{n\in {\mathbb{N}}}}}{V}_{n}(S^* )=V(S^* )\\ & \subset \mathop{\mathop{\bigcup }\limits^{* }}\limits_{n\in {\mathbb{N}}^* }V(S^* )=(V(S^* ))^* \end{array}\end{eqnarray} der Struktur links außen in diejenige rechts außen, d. h. V(S) ⊂ (V(S))*, ist wie im ursprünglichen Falle von ℝ ⊂ ℝ* eine elementare Erweiterung (Parameter aus V(S)), die linksseitige und die rechtsseitige Erweiterung für sich genommen erhalten jeweils nur die Gültigkeit von Formeln mit beschränkten Quantoren und Parametern aus V(S). Die Bilder von Elementen A von V(S) in V(S*) heißen wieder standard und werden mit A* bezeichnet. Ist A eine unendliche Menge oder Struktur, so heißt A* andererseits auch Nichtstandard-Modell von A, im Hinblick auf seine innere Struktur.

Für viele Zwecke genügen Formeln mit beschränkten Quantoren und damit die linksseitige Erweiterung V(S) ⊂ V(S*), für die gerade das Transferprinzip für Formeln mit beschränkten Quantoren gilt. Auch dafür hat sich der Begriff Nichtstandard-Erweiterung eingebürgert.

In diesem Rahmen ergeben sich nun neue Charakterisierungen von klassischen Eigenschaften aus der Analysis. Die Riemannsche Integrierbarkeit einer reellen Funktion f : [a, b] → ℝ kann z. B. ausgedrückt werden durch die äquivalente Aussage:

Für alle *-endlichen Unterteilungen \begin{eqnarray}a={a}_{0}\le {a}_{1}\le \cdots \le {a}_{n-1}\le {a}_{n}\le \cdots \le {a}_{\omega -1}\le {a}_{\omega }=b,\omega \in {\mathbb{N}}^* \backslash {\mathbb{N}},\end{eqnarray}deren Teilintervalle [an−1, an] für n = 1,…, ω infinitesimale Länge haben, und für jede beliebige Auswahl \begin{eqnarray}{\{{x}_{n}\in [{a}_{n-1},{a}_{n}]\}}_{n=1\cdots \omega }\end{eqnarray}von Zwischenwerten xn sind die Riemannschen Summen \begin{eqnarray}\mathop{\sum ^{n=\omega }}\limits_{n=1}f({x}_{n})({a}_{n}-{a}_{n-1})\end{eqnarray}endlich und liegen in derselben Monade.

Ist diese Bedingung erfüllt, dann folgt erwartungs-gemäß \begin{eqnarray}^\circ \left(\mathop{\sum ^{n=\omega }}\limits_{n=1}f({x}_{n})({a}_{n}-{a}_{n-1})\right)=\mathop{\mathop{\int }\limits^{b}}\limits_{a}f(x)dx.\end{eqnarray} Die erwähnten Mengen von Unterteilungen bzw.Auswahlen sind in V(ℝ*) durch Formeln (mit be-schränkten Quantoren und Parametern aus V(ℝ*)) definierbare Teilmengen. Sie heißen auch interndefinierbare Teilmengen. Für diese gilt nun das in-terne Definitionsprinzip:

Eine Teilmenge von V(ℝ*) ist genau dann interndefinierbar, wenn sie sogar ein Element von V(ℝ*) ist.

Die letzteren heißen auch interne Teilmengen,während die übrigen externe Teilmengen genanntwerden. Es gilt:

Standard-Elemente, d. h. Elemente A* mit A ∈ V(ℝ), sind intern.

Zum Beispiel sind alle reellen Standard-Zahlen r* mit r ∈ ℝ intern. Doch ist ihre Gesamtheit Rals Teilmenge von * ⊂ V(ℝ*) eine externe Teil-menge.

Weitere Beispiele für interne Mengen sind {0, 1, ···, ω − 1, ω} für ω ∈ ℕ* beliebig. * \ ℕ istdagegen eine externe Menge. Letzteres sieht manfolgendermaßen: Wäre sie intern, dann hätte sie ein kleinstes Element k ∈ ℕ* \ ℕ, weil das in V(ℝ) für alle Elemente, die Teilmengen von sind, gilt,und somit auch in V(ℝ*) (wegen des Transferprin-zips). Nun gilt aber im Gegenteil für jedes Element L ∈ ℕ* \ ℕ auch L − 1 ∈ ℕ* \ ℕ.

Da die Formeln, welche dem Transferprinzip unterliegen, ihre Aussagen nur über Elemente von V(ℝ*) machen, d.h. über interne Teilmengen,übertragen sich die Sätze der Analysis gerade aufdie internen Teilmengen von V(ℝ*), aber nicht auf externe Mengen. So hat etwa jede nach unten be-schränkte interne Teilmenge von * ein Infimumin *, doch gilt das nicht mehr für die externe Teil-menge (ℕ* \ ℕ) ⊂ ℝ*.

Die weiter oben formulierten Charakterisierungen von klassischen Begriffen sind Beispiele von Aussagen über V(ℝ*), die sich auf externe Teilmengen beziehen, wie ° : E → ℝ oder die Monade von 0. Damit können Beweise von klassischen Sätzen der Analysis vereinfacht werden. Doch kann wiederum jeder mit Hilfe von Nichtstandard-Methoden aus der Definition von V(ℝ) in der Zermelo-Fraenkelschen Mengenlehre mit Auswahlaxiom bewiesene Satz auch ohne Nichtstandard-Methoden bewiesen werden. Ein Beispiel jedoch für einen Satz der Analysis, der zuerst mit Nichtstandard-Analysis bewiesen wurde, ergab sich im Zusammenhang mit dem Invarianten-Unterraum-Problem für polynomial kompakte beschränkte Operatoren über einem Hilbertraum Nichtstandard-Funktionalanalysis).

In vielen Fällen werden in Nichtstandard-Beweisen Saturiertheitseigenschaften von Nichtstandard-Erweiterungen verwendet. Besonders wichtig sind die Vergrößerungen (engl. enlargement) und die polysaturierten NichtstandardErweiterungen. Sie finden auch Verwendung in der Nichtstandard-Funktionalanalysis, der Nichtstandard-Topologie, der Nichtstandard-Maßtheorie, sowie der Nichtstandard-Stochastik.

Die Zusammenhänge zwischen standard, intern und extern lassen sich auch axiomatisch beschreiben. Zu diesem Zweck wurde 1977 die interne Mengenlehre von E.Nelson entwickelt. Dabei handelt es sich um eine konservative Erweiterung der Zermelo-Fraenkelschen Mengenlehre mit Auswahlaxiom.

Literatur

[1] Albeverio, S.; Fenstad, J.E.; Ho0egh-Krohn, R.; Lindstr0m, T.: Nonstandard Methods in Stochastic Analysis and Mathematical Physics. Academic Press Orlando, 1986.

[2] Cutland, N.(Hrsg.): Nonstandard Analysis and its Applications. Cambridge University Press Cambridge UK, 1988.

[3] Keisler, H.J.: Elementary Calculus. Prindle, Weber & Schmidt Boston, 1976.

[4] Keisler, H.J.: Foundation of Infinitesimal Calculus. Prindle, Weber & Schmidt Boston, 1976.

[5] Nelson, E.: Radically Elementary Probability Theory. Princeton University Press Princeton, 1987.

[6] Richter, M.M.: Ideale Punkte, Monaden und Nichtstandard-Methoden. Friedr. Vieweg & Sohn Braunschweig, 1982.

[7] Robinson, A.: Introduction to Model Theory and to the Metamathematics of Algebra. North-Holland Publishing Company Amsterdam, 1963.

[8] Robinson, A.: Non-Standard Analysis. North-Holland Publishing Company Amsterdam, 1966.

[9] Stroyan, K.D.; Luxemburg, W.A.J.: Introduction to the Theory of Infinitesimals. Academic Press New York, 1976.

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  • Die Autoren
- Prof. Dr. Guido Walz

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