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Corona-Pandemie: Das Sterben in Manaus sollte der Welt eine Warnung sein

Von wegen Herdenimmunität: In Brasiliens Metropole Manaus ist das Gesundheitssystem wegen Corona zusammengebrochen. Einer Theorie zufolge ist die Mutation P.1 mitverantwortlich.
Friedhofsmitarbeiter in Schutzanzügen sitzen auf mit Blumen geschmückten Gräbern während einer Beerdigung am Friedhof Nossa Senhora Aparecida in Manaus.

Es hieß, die brasilianische Stadt Manaus habe die Herdenimmunität erreicht. Es hieß, das Coronavirus wäre dort unter Kontrolle. Nun gibt es nicht nur Zweifel an der Studie zur Immunität, sondern schlimmer: Die Intensivstationen in den Krankenhäusern der Metropole sind überfüllt, Sauerstoffvorräte nahezu aufgebraucht. Aus Kliniken ist zu hören, dass Menschen ersticken, weil Ärztinnen und Ärzte sie nicht ausreichend beatmen können. Das Gesundheitssystem ist zusammengebrochen.

Was in diesen Tagen in Manaus geschieht, könnte weltweit Folgen haben. In der Stadt kursiert eine neue Variante des Coronavirus Sars-CoV-2. Ihre Eigenschaften deuten manche Forschende als erstes Zeichen, dass es im Kampf gegen Covid-19 in den nächsten Wochen und Monaten zu einem harten Rückschlag in der Bekämpfung der Pandemie kommen könnte.

Die Situation in Manaus ist ebenso dramatisch wie tragisch. Längst können Kliniken mehrere hundert Covid-19-Patienten, die eigentlich intensivpflichtig sind, nicht mehr aufnehmen, während Pfleger und Ärzte ihre Patienten auf den Stationen nicht mehr versorgen können. Auf Grund der vielen beatmungspflichtigen Covid-19-Erkrankten auf den Intensivstationen ist der Bedarf an Sauerstoff für die künstliche Beatmung enorm gestiegen, Krankenhauspersonal muss Patienten mancherorts mit Handpumpen beatmen. Das kann eine Person 20 Minuten leisten – dann muss jemand anderes helfen. Die Notlösung der Notlösung: Freiwillige, die zum Lebenretten in die Krankenhäuser kommen.

Verantwortlich für diese Situation sind zum einen die Behörden und die brasilianische Regierung. Die Krankenzahlen sind in der zweiten Dezemberhälfte rasant gestiegen, nachdem die Regeln zur Eindämmung der Pandemie kurz zuvor gelockert worden waren; darunter das Verbot von größeren Treffen und Abstandsregeln. Das hat es dem Virus vor allem während Weihnachten und den Feiern zum Ende des Jahres ermöglicht, sich vermehrt auszubreiten. Der rechtspopulistische brasilianische Staatspräsident Jair Bolsonaro trug seinen Teil bei, indem er immer wieder öffentlich die Gefährlichkeit des Virus herunterspielte und Zweifel an der Sicherheit und Wirksamkeit von Impfstoffen säte: »Wir übernehmen keine Verantwortung«, sagte er. »Wenn du ein Krokodil wirst, ist das dein Problem.«

Zum anderen gibt es beunruhigende Anzeichen dafür, dass die Probleme nicht nur auf Brasiliens Umgang mit der Krise, sondern auch auf Veränderungen des Coronavirus zurückzuführen sind.

Eine Herdenimmunität war in Manaus vermutlich nie erreicht

Manaus war schon im April 2020, während der ersten Welle der Pandemie, eine Stadt mit besonders vielen Infizierten. Für die Toten mussten damals Massengräber ausgehoben werden. Weil das Virus sich so rasch verbreitete, vermuteten Forscherinnen und Forscher, dass binnen kurzer Zeit ein Großteil der Menschen den Erreger in sich trug. Bereits im Oktober 2020 sollten sich 76 Prozent der Bevölkerung in Manaus mit Sars-CoV-2 infiziert haben, hieß es im renommierten Wissenschaftsmagazin »Science«. Folglich hätte die Stadt laut offiziellen Kriterien die Herdenimmunität erreicht haben können. Was auch bedeutet: Es hätte keinen so krassen Ausbruch geben sollen, wie er aktuell in Manaus stattfindet.

Sauerstoffmangel in Manaus | Familienangehörige von Covid-19-Patienten, die im Krankenhaus liegen, stehen mit leeren Sauerstoffflaschen vor einer Firma, um sie wieder aufzufüllen.

Wie kann das sein?

Womöglich war die Berechnung falsch oder zumindest die Schlussfolgerung, die manche daraus gezogen haben. So ist die »Science«-Studie mittlerweile umstritten. Forscher hatten die Zahl der wahrscheinlich vor Sars-CoV-2 geschützten Menschen anhand der Untersuchungen von Blutproben auf Antikörper mit statistischen Methoden berechnet. Allerdings stammen die Daten von Blutspendern, die als Anreiz einen kostenlosen Test auf Covid-19-Antikörper erhielten. Das könnte vor allem jene Spender angelockt haben, die vermuteten, in der Vergangenheit infiziert gewesen zu sein.

Solch eine statistische Verzerrung wäre noch der Bestfall. Zumindest wenn man die andere Möglichkeit in Betracht zieht.

Coronavirus-Variante P.1 im Bundesstaat Amazonas bereitet Sorgen

Forschende befürchten, dass Veränderungen an entscheidenden Stellen des Virus die Ursache sind. Aufgrund der Mutationen, so die Sorge, könnte diese Sars-CoV-2-Variante selbst jene noch ein zweites Mal befallen, welche das Virus schon einmal in sich trugen oder durch einen Impfstoff geschützt sein sollten – das Immunsystem erkennt den Erreger nicht wieder. Für den weltweiten Kampf gegen die Pandemie, bei dem mühsam auch mit Hilfe von Impfstoffen eine Immunität aufgebaut wird, wären das katastrophale Nachrichten.

»Die neue Variante könnte sich besonders dort durchsetzen, wo ein größerer Anteil der Bevölkerung bereits vermeintlich immun ist«
Jesse Bloom, Evolutionsbiologe

Tatsächlich ließ sich im Amazonasgebiet eine neue Mutation von Sars-CoV-2 nachweisen: P.1. Zuerst entdeckt wurde die Variante, als sie sich bereits im Ausland befand: In Japan wiesen Labormitarbeiter die Mutation bei vier Reisenden aus dem Amazonasgebiet nach. Bei einer Analyse von P.1 zeigte sich, dass sie ähnliche Mutationen aufweist wie zwei andere viel beachtete Virusvariationen, B.1.1.7 aus Großbritannien und 501Y.V2 aus Südafrika. Bei diesen beiden haben erste Studien gezeigt, dass sie zwar nicht zu schwereren Krankheitsverläufen führen, aber ansteckender sind als das bisherige Sars-CoV-2.

Jesse Bloom, ein Evolutionsbiologe vom Fred Hutchinson Cancer Research Center in Seattle hält das für beunruhigend: »Jedes Mal, wenn die gleichen Mutationen unabhängig voneinander auftauchen und sich ausbreiten, ist das ein starkes Indiz dafür, dass diese Mutationen sich einen deutlichen evolutionären Vorteil verschaffen.«

Zusätzlich zeigt sich bei P.1 aus Südamerika schon jetzt: Der Umfang der Mutationen ist größer. Es könnte also sein, dass dieser veränderte Erreger noch weitere bedeutende neue Eigenschaften aufweist. Auch fanden sich erste, einzelne neu infizierte Patienten. »Dass die Variante ausgerechnet hier aufgetaucht ist, könnte ein Zeichen dafür sein, dass sie sich besonders dort durchsetzt, wo ein größerer Anteil der Bevölkerung bereits vermeintlich immun ist«, sagt Bloom.

»Die Variante aus Manaus verändert einen bestimmten Teil eines Proteins, das gegen Sars-CoV-2 gerichtete Antikörper neutralisieren kann«
Fernando Spilki, Virologe

Ein weiteres Anzeichen dafür sieht Fernando Spilki, Virologe an der Feevale-Universität in der Metropolregion Porto Alegre in Brasilien, bei genauerer Betrachtung der Mutationen des Virus: »Die Variante aus Manaus verändert einen bestimmten Teil eines Proteins, bei dem zumindest in Laborversuchen nachgewiesen werden konnte, dass es gegen Sars-CoV-2 gerichtete Antikörper neutralisieren kann.«

Doch noch sind all dies nur erste Hinweise. Es ist längst nicht sicher, dass die neue Virusvariante eine auf Sars-CoV-2 trainierte Immunabwehr des Körpers umgeht. So kann es durchaus sein, dass in den Einzelfällen, bei denen es zu einer zweiten Infektion kam, nicht ein veränderter Erreger, sondern das Immunsystem der Patientinnen und Patienten die Ursache ist. Das System könnte im Verlauf der vergangenen Monate verlernt haben, Sars-CoV-2 abzuwehren.

Auch ist unklar, wie das veränderte Virus auf die vorhandenen Covid-19-Impfstoffe reagiert. Noch gibt es keine Hinweise auf Resistenzen. Doch dass sich der Erreger mehrfach an entscheidenden Stellen rasch gewandelt hat, deuten manche Forschernde als Zeichen dafür, dass Sars-CoV-2 sich schnell auf Impfstoffe einstellen könnte.

Wie entwickelt sich die Pandemie? Welche Varianten sind warum Besorgnis erregend? Und wie wirksam sind die verfügbaren Impfstoffe? Mehr zum Thema »Wie das Coronavirus die Welt verändert« finden Sie auf unserer Schwerpunktseite. Die weltweite Berichterstattung von »Scientific American«, »Spektrum der Wissenschaft« und anderen internationalen Ausgaben haben wir zudem auf einer Seite zusammengefasst.

Derzeit ist also noch vieles unsicher. Was fest steht: Es ist üblich, dass Viren sich verändern. Doch je mehr bedenkliche Varianten im Umlauf sind, desto kleiner ist die Wahrscheinlichkeit, die Pandemie zeitnah eindämmen zu können. Allein in Brasilien kursierten mittlerweile drei Sars-CoV-2-Linien, sagt Spilki: »Die Variante aus Manaus, eine in Rio de Janeiro und eine im Süden des Landes, am Rio Grande do Sul.«

Krankentransport | Mitarbeiter des Gesundheitswesens und des Militärs bereiten sich am Flughafen Ponta Pelada in Manaus darauf vor, eine Covid-19-Patientin in ein Flugzeug der Luftwaffe zu verfrachten, um sie in ein Krankenhaus außerhalb der Stadt zu bringen.

Tierversuche sollen mehr über die Südamerikavariante verraten

Für die Patienten in Manaus sind die Ursachen zweitrangig. Am wichtigsten ist es, die Kranken zu versorgen. Brasilien versucht derzeit alles, um ihnen zu helfen und die Situation dort unter Kontrolle zu bringen. So haben Militärhubschrauber in den vergangenen Tagen Sauerstoff in die Stadt geliefert, mehrere hundert Patienten wiederum wurden in Krankenhäuser in der Umgebung verlegt.

Währenddessen arbeiten Wissenschaftler daran, die Eigenschaften von P.1 genauer zu erforschen. In Tierversuchen etwa mit Hamstern wird erprobt, ob als immun geltende Tiere nach einer ersten Ansteckung erneut erkranken, ob sich das mutierte Virus schneller übertragen lässt und welche Besonderheiten die Variante noch aufweist. Mit ersten Ergebnissen ist in den kommenden Wochen zu rechnen.

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