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Corona-Impfung: Geimpfte Erwachsene können Kinder vor Covid-19 schützen

Weltweit finden Corona-Massenimpfungen statt. Zumeist bekommen Erwachsene die Mittel. Die so geschaffene Herdenimmunität schützt auch Kinder, wie erste Daten vermuten lassen. Unklar ist aber, ob sie als Reservoir für neue Sars-CoV-2-Varianten dienen.
Menschen warten im Februar 2021 in Brasliens Stadt Serrana, Sao Paulo, vor einer öffentlichen Schule, um eine Impfung mit dem Sinovac CoronaVac-Impfstoff zu bekommen.

Ungeimpfte Kinder scheinen von den Massenimpfprogrammen gegen Covid-19 in vielen Teilen der Welt zu profitieren. Vielerorts sind Infektionen bei Kindern zurückgegangen, während Erwachsene ihre Impfungen erhielten. Experten sind sich jedoch uneinig darüber, ob dies bedeutet, dass ungeimpfte Kinder nicht zu einem Reservoir für Infektionen werden und zu einer potenziellen Brutstätte für die Entstehung neuer Varianten.

Die Antwort beeinflusst, ob Kinder in wohlhabenden Ländern vorrangig geimpft werden oder ob die Dosen stattdessen an ärmere Länder gehen sollten.

Beeindruckende Daten darüber, wie sich die Impfung von Erwachsenen auf Kinder auswirken, stammen aus der kleinen Stadt Serrana im brasilianischen Bundesstaat São Paulo, in der 98 Prozent der Erwachsenen geimpft wurden. Die Stadt war Schauplatz eines einzigartigen Experiments – genannt Projekt S –, um die reale Wirksamkeit von CoronaVac zu messen. Das Mittel war von dem in Peking ansässigen Pharmaunternehmen Sinovac entwickelt worden. Im Vergleich zu anderen Impfstoffen war Sinovac in einigen früheren klinischen Studien weniger erfolgreich bei der Verhinderung symptomatischer Infektionen gewesen, mit Wirksamkeitsraten von nur 50 Prozent.

Doch Anfang Juni 2021 berichtete ein Team des Butantan-Instituts in der Stadt São Paulo auf einer Pressekonferenz über einen bemerkenswerten Rückgang der Covid-19-Fälle und -Todesfälle: Die symptomatischen Fälle sanken um 80 Prozent und die Todesfälle um 95 Prozent. Nur 62 Prozent der 45 000 Einwohner von Serrana sind Erwachsene, aber ein ähnlicher Rückgang der symptomatischen Infektionen trat bei ungeimpften Kindern auf, so Ricardo Palacios, der Epidemiologe, der die Studie leitete.

»Es war eine unserer Befürchtungen, dass sich die Krankheit bei Kindern und Jugendlichen häufen wird, wenn man alle anderen impft«, sagt er. »Aber das haben wir nicht gesehen.«

Wie entwickelt sich die Pandemie? Welche Varianten sind warum Besorgnis erregend? Und wie wirksam sind die verfügbaren Impfstoffe? Mehr zum Thema »Wie das Coronavirus die Welt verändert« finden Sie auf unserer Schwerpunktseite. Die weltweite Berichterstattung von »Scientific American«, »Spektrum der Wissenschaft« und anderen internationalen Ausgaben haben wir zudem auf einer Seite zusammengefasst.

Sorgen Corona-Massenimpfungen für eine Herdenimmunität?

Ähnliche Szenarien haben sich in Ländern mit hohen Impfraten abgespielt, etwa in Israel und den Vereinigten Staaten. In letzteren sind die Fälle bei Kindern – in der Regel die unter 18-Jährigen – zwischen Januar und Mai um 84 Prozent zurückgegangen. Etwas mehr als die Hälfte der US-Bevölkerung – überwiegend Erwachsene – hat mindestens eine Impfdosis erhalten.

In Deutschland sind Mitte Juni rund 22 Millionen Personen vollständig geimpft. Das entspricht etwas mehr als 26 Prozent der Gesamt­bevölkerung, wie dem Impfdashboard zu entnehmen ist. Insgesamt haben bis zum 14. Juni 2021 mehr als 40 Millionen Personen, zirka 48 Prozent der Bevölkerung, mindestens eine Impf­dosis erhalten. Die Werte unterscheiden sich zwar je nach Bundesland, doch es existiert eine klare Altersverteilung: Unter den Geimpften sind mehrheitlich Menschen über 60 Jahre, gefolgt von den 18- bis 59-Jährigen. Das geht aus einem aktuellen Bericht des Robert Koch-Instituts hervor (PDF). Ein Beispiel: In Baden-Württemberg sind 79,1 Prozent aller Personen über 60 geimpft, 44,4 Prozent der 18- bis 59-Jährigen und 1,6 Prozent sind jünger als 18 Jahre. In Niedersachsen teilt es sich vergleichsweise wie folgt auf: 83,6 Prozent, 42,1 Prozent, 1,1 Prozent (Stand 14. Juni 2021).

Das Vorgehen »ist sinnvoll«, sagt Monica Gandhi, eine Ärztin für Infektionskrankheiten an der University of California in San Francisco. Die Impfung von Erwachsenen schützt jene, welche nicht geimpft sind. »Das ist es, was Herdenimmunität wirklich bedeutet«, sagt sie. Auch würden Kinder das Virus seltener übertragen als Erwachsene – ein weiterer Grund, warum sie nicht als effektives Reservoir für die Infektion fungieren könnten. »Die Art, wie das Virus Kinder befällt, ist einfach anders«, sagt sie, wahrscheinlich weil die Atemwege von Kindern weniger der Rezeptoren haben, die Sars-CoV-2 benutzt, um in die Zellen einzudringen.

In Israel sind die Infektionsraten bei denjenigen, die für eine Impfung in Frage kommen, stark gesunken: von 559 Fällen pro 100 000 Menschen im Alter von 16 Jahren und älter Mitte Januar auf nur noch 1,5 pro 100 000. Die meisten Schulen wurden im März wieder geöffnet. Auch unter den ungeimpften Kindern sanken die Raten, zum Beispiel von 546 pro 100 000 auf 1,5 pro 100 000 bei den unter 11-Jährigen.

In Deutschland haben sich zu Beginn des Jahres 2021 vermehrt Kinder und Jugendliche mit Sars-CoV-2 angesteckt. Der Höchstwert wurde in der Kalenderwoche 16 erreicht. Damals waren mehr als 33 000 Menschen im Alter von 0 bis 19 Jahren offiziell infiziert, wie aus einem RKI-Bericht hervorgeht. In der Altersgruppe der – mittlerweile auch zum Impfen berechtigten – 12- bis 19-Jährigen gab es in der besagten Woche rund 19 000 Fälle. Seit dem Peak sinken die Zahlen stetig.

Ungeimpfte Kinder könnten weiterhin bedeutende Corona-Überträger sein

Die Zahlen in Israel deutet darauf hin, dass Kinder am häufigsten von Erwachsenen angesteckt werden, sagt Eric Haas, ein Kinderarzt für Infektionskrankheiten und Epidemiologe am israelischen Gesundheitsministerium in Jerusalem. »Sonst würde man erwarten, dass sich die Kinder, wenn sie wieder zur Schule gehen, massenhaft gegenseitig anstecken.«

Aber nicht jeder liest die Daten auf diese Weise. Julian Tang, Virologe an der University of Leicester in Großbritannien, meint, dass die Geschwindigkeit, mit der die Impfung in Israel durchgeführt wurde, dazu beigetragen haben könnte, dass sie die Infektionen in allen Altersgruppen auslöschte. »Zu dem Zeitpunkt, als die Impfung der Erwachsenen abgeschlossen war, gab es keine Infektionsquelle mehr, um das Virus in die Schulen zu tragen, sagt er.

In Großbritannien liegt die Impfrate derzeit bei 60 Prozent. Erste Daten von dort zeichnen ebenfalls ein komplizierteres Bild, wenn es um ungeimpfte Kinder und ihr Potenzial zur Verbreitung von Covid-19 geht. Bis Ende Mai waren in England die Fälle bei Kindern in der Sekundarstufe von einem Höchststand von etwa 600 Fällen pro 100 000 im Januar auf weniger als 100 pro 100 000 gesunken. Bei jüngeren Schulkindern sind die Zahlen dort jetzt noch niedriger.

Jüngste Daten deuten aber auch darauf hin, dass ungeimpfte Kinder immer noch bedeutende Überträger des Virus sein könnten. Im Mai gab es fast 100 Ausbrüche – definiert als zwei oder mehr Fälle – in Grund- und weiterführenden Schulen in England. »Diese Zahl ist jedoch gering und repräsentiert nur einen winzigen Anteil« der 25 000 Schulen des Landes, sagt Shamez Ladhani, ein Arzt für pädiatrische Infektionskrankheiten bei Public Health England. Er stellt außerdem fest, dass sich die Gesamtinfektionsraten bei Kindern im Schulalter in den sechs Wochen nach der Wiedereröffnung der Schulen kaum verändert haben.

Dennoch sagt Tang, dass die Übertragung in Schulen nicht ignoriert werden sollte. Die Wiedereröffnung der Schulen fiel mit der zunehmenden Verbreitung von B.1.617.2 – auch bekannt als die Delta-Variante – in den britischen Gemeinden zusammen. Infolgedessen könnte das Virus weiterhin bei Kindern zirkulieren. Dies sei ein wichtiger Punkt, sagt Tang. Denn je länger die Pandemie anhält, desto größer sei die Chance, dass sich neue Varianten mit einer gewissen Resistenz gegen Impfstoffe entwickeln.

Knapp ein Prozent der unter 18-Jährigen deutschlandweit geimpft

In den Vereinigten Staaten hat die Federal Drug Administration am 10. Mai 2021 den Impfstoff von Biontech/Pfizer für Kinder im Alter von 12 bis 18 Jahren zugelassen, und mehr als sieben Millionen dieser Kinder haben inzwischen mindestens eine Dosis erhalten. Behörden in der Europäischen Union, Japan, Großbritannien und anderswo haben die Zulassung inzwischen ebenfalls erteilt.

In Europa hatte Ende Mai die Europäischen Kommission den Impfstoff von Biontech/Pfizer auf Empfehlung der Europäischen Arzneimittelbehörde EMA für Kinder ab 12 Jahren zugelassen. Die Ständige Impfkommission in Deutschland hat derweil keine generelle Impfempfehlung für gesunde Kinder und Jugendliche ab 12 Jahren ausgesprochen. Sie empfiehlt Impfungen gegen das Coronavirus nur für 12- bis 17-Jährige mit bestimmten Vorerkrankungen und jene, in deren Umfeld sich Angehörige oder andere Kontaktpersonen mit hoher Gefährdung für einen schweren Covid-19-Verlauf befinden. Etwas mehr als ein Prozent der unter 18-Jährigen hat hier zu Lande bereits ihre erste Impfdosis erhalten, wie das digitale Impfquoten-Monitoring des RKI mit Stand 14. Juni 2021 zeigt.

Ein Grund: Eine schwere Covid-19-Infektion bei Kindern ist selten. Die Autoren einer Analyse vom Mai 2020 aus 26 Ländern schätzen, dass nur 0,14 Prozent der mit Sars-CoV-2 infizierten Kinder eine gefährliche Entzündung entwickeln. Auch andere Komplikationen seien ungewöhnlich, sagt Ghandi.

Auf Grund des geringeren Risikos habe die Impfung von Kindern keine hohe Priorität, argumentiert die Weltgesundheitsorganisation WHO. Ein weiterer Grund: Die weltweiten Vorräte reichen nicht einmal aus, um alle Erwachsenen zu immunisieren.

Jüngere sollten kein potenzielles Reservoir für asymptomatische Covid-Infektionen sein

»Es gibt Länder, die Individuen impfen, die die Impfung nicht wirklich brauchen, während es eine Menge anderer Länder gibt, die den Impfstoff dringend nötig haben«, sagt Kim Mulholland, Kinderarzt und Impfstoffforscher am Murdoch Children's Research Institute in Melbourne, Australien. »Das ist extrem beunruhigend.«

Der Kinderarzt Eric Haas ist dafür, die Impfung in Israel auf Kinder im Alter von 12 bis 15 Jahren auszuweiten. Obwohl das Risiko einer schweren Erkrankung bei Kindern geringer ist, »ist es nicht kein Risiko«, sagt er. Die Impfung von Heranwachsenden würde zudem für einen geregelten Schulalltag sorgen und ungeimpften Erwachsenen den Schutz der Herde bieten, sagt er.

Auch Julian Tang hält die Impfung von Kindern für entscheidend, um die Pandemie zu stoppen. Der Schutz würde die Jüngeren als potenzielles Reservoir für asymptomatische Infektionen ausschließen und so verhindern, dass sich neue Varianten entwickeln, sagt der Virologe. In einer idealen Welt, fügt Tang hinzu, würde man alle Altersgruppen impfen, so dass neue Varianten weder in ungeimpften Populationen von Erwachsenen noch in Kindern auftauchen würden. Bis die Impfstoffproduktion der Nachfrage entspricht, sei es wichtig, nicht nur Erwachsene in Ländern mit niedrigem Einkommen zu impfen, sondern auch Kinder an Orten, die bereits eine gute Impfabdeckung haben. »Man kann ein bisschen von beidem machen«, sagt Tang.

Anm. d. Red.: »Spektrum.de« hat den ursprünglichen Artikel um Daten aus Deutschland ergänzt.

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