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Covid-19: Warum gehen immer noch so viele Menschen aus?

Während der Coronavirus-Pandemie gilt es, soziale Kontakte zu meiden. So manchen kümmert das wenig. Weil der Egoismus überwiegt, muss der Staat eingreifen.
Manche Menschen haben den Ernst der Lage noch immer nicht begriffen.

Seit einigen Tagen ist die Situation in Frankreich und Deutschland – wie schon zuvor in Italien und China – Besorgnis erregend. Das Coronavirus breitet sich immer weiter aus. In Frankreich sind manche Krankenhäuser bereits überlastet, und die Zahl der Todesfälle steigt in beängstigender Weise an. In seiner Rede am 12. März 2020 rief Präsident Emmanuel Macron die Bevölkerung dazu auf, soziale Interaktionen zu begrenzen. Drei Tage später verhängte er Ausgangssperren.

Nichtsdestotrotz berichteten die Medien dieses Wochenende entsetzt von mehreren Menschenansammlungen: überfüllte Märkte und Parks, lebhafte Uferpromenaden an der Seine, Ausflüge mit Freunden, Kinder auf Spielplätzen und so weiter. Warum halten sich so viele Menschen nicht an die Anweisungen der Experten und verlassen nach wie vor ihre Wohnungen?

Zwei Phasen der Unvernunft

Die Reaktion der französischen Gesellschaft – und auch mancher anderen – auf die Pandemie scheint zwei Phasen zu durchlaufen. In der ersten schätzte die Bevölkerung das Problem offenbar falsch ein. Viele gingen davon aus, dass man mit seinem Verhalten ausschließlich die eigene Gesundheit gefährde. Wenn man zu keiner Risikogruppe gehöre, werde man schon nicht an dieser Krankheit sterben. Zudem verglichen einige das Coronavirus mit bekannten Erkrankungen wie der saisonalen Grippe. Das trug dazu bei, dass zahlreiche Menschen die Lage unterschätzten.

Wie tödlich ist das Coronavirus? Was ist über die Fälle in Deutschland bekannt? Wie kann ich mich vor Sars-CoV-2 schützen? Diese Fragen und mehr beantworten wir in unseren FAQ. Mehr zum Thema lesen Sie auf unserer Schwerpunktseite »Ein neues Coronavirus verbreitet sich weltweit«.

Wie Mediziner immer wieder nachdrücklich betonen, gefährdet man durch soziale Kontakte aber nicht nur sich selbst, sondern die gesamte Gesellschaft: Erkrankt ein Einzelner, steigt die Ansteckungsgefahr für alle. Wenn die, die trotz der bestehenden Gefahr durch das Virus etwas trinken gehen, von Tapferkeit sprechen, ist das eine vollkommen falsche Wahrnehmung des Problems. Die Folgen trägt die Gesellschaft. Es ist also alles andere als mutig, russisches Roulette auf Kosten anderer zu spielen.

Dank dieser Erklärungen fingen die meisten Bürger nach einiger Zeit an, umzudenken. Sie begannen zu verstehen, dass ihr Verhalten den Schwächsten in unserer Gesellschaft schaden kann. Spätestens als der französische Präsident einschritt, waren die Risiken bekannt. Das läutete die zweite Phase ein. Seither ist die Rücksichtslosigkeit einzelner Menschen nicht mehr auf mangelndes Verständnis zurückzuführen, sondern auf einen Konflikt zwischen ihren persönlichen Interessen und dem Allgemeinwohl.

»Es ist alles andere als mutig, russisches Roulette auf Kosten anderer zu spielen«

In Wirklichkeit ist die soziale Teilhabe ein öffentliches Gut. Unter Ökonomen gelten verschiedene Bereiche als öffentliche Güter, wie der Umwelt- oder der Tierschutz. Jeder Einzelne kann dazu beitragen, die Situation für alle zu verbessern, etwa indem er auf Flugreisen verzichtet. Dennoch überlässt man solche Aufgabe gerne anderen. Zum Beispiel, indem man selbst fliegt, aber hofft, dass andere darauf verzichten. Dieses Phänomen ist als Trittbrettfahrerproblem bekannt.

Die momentane Pandemie ist ein Paradebeispiel für dieses Problem. Einerseits hat jeder Interesse daran, die Krankheit einzudämmen. Andererseits möchte man weiterhin ausgehen, das gute Wetter genießen, ins Fitnessstudio gehen oder mit Freunden etwas trinken.

Menschen gehen mit der Krise unterschiedlich um

Das gilt insbesondere für junge Menschen, die häufig keine Symptome haben. Dennoch können sie die Krankheit in sich tragen. Für diese Personengruppe ist der Verzicht hoch und der Anreiz, zu Hause zu bleiben, gering. Der Konflikt zwischen persönlichen Interessen und dem kollektiven Wohl zeigt sich auch darin, dass Einzelpersonen oft bereit sind, sich für Kinder zu engagieren, obwohl diese am wenigsten betroffen sind. Das Problem wird dadurch verschärft, dass in den verschiedenen Generationen der Bevölkerung im Umgang mit Konflikten ein starker Unterschied besteht.

In der Verhaltensökonomie unterscheidet man in Situationen, die das Gemeinwohl betreffen, zwischen drei Arten von Personen:

1. Die Bedingungslosen: Unabhängig von der Situation tragen solche Menschen zum öffentlichen Wohl bei. Es sind diejenigen, die sich an offizielle Anweisungen halten.
2. Die Bedingten: Diese Personen lassen sich durch das Verhalten anderer beeinflussen. Wenn andere mehr beitragen, engagieren auch sie sich stärker.
3. Die Trittbrettfahrer: Sie verfolgen nur ihre persönlichen Interessen. Es waren Trittbrettfahrer, die vergangenes Wochenende in Massen hinausströmten, obwohl sie wussten, dass sie andere damit gefährden.

»Es war so schön sonnig, ich wollte einfach rausgehen.« Solche Argumente spiegeln den Gegensatz zwischen persönlichem und öffentlichem Interesse wider. Einige weigern sich sogar einzusehen, dass sie damit anderen schaden: »Ich tue damit doch niemandem weh.« Wieder andere wälzen die Verantwortung auf die Gruppe ab: »Allein kann man eh nicht viel bewirken.« Diese Aussagen sind typisch für Personen, die nicht zum öffentlichen Wohl beitragen wollen.

Es braucht strengere Maßnahmen

Glücklicherweise erklärt die Verhaltensökonomie solche Verhaltensweisen nicht nur, sondern liefert auch mögliche Lösungen und trifft Vorhersagen:

1. Wenn man Ausgangssperren nicht erzwingt, bleiben bloß die Bedingungslosen zu Hause. Leider stellen sie nur einen kleinen Teil der Bevölkerung dar. Über die Zeit halten sich immer weniger Menschen an die Vorgaben, weil sich die Bedingten immer weniger einschränken.
2. Verhängt man eine Ausgangssperre, sind strenge Maßnahmen erforderlich. Fachleute haben festgestellt, dass kleine Sanktionen wenig bis gar nichts bewirken.
3. Soziale Sanktionen können eine wichtige Rolle bei Ausgangssperren spielen: Indem man Verstöße etwa durch Verweise oder Missbilligungen bestraft, halten sich mehr Menschen an die Vorgaben.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass das rücksichtslose Verhalten, das wir inmitten der Pandemie beobachten, charakteristisch ist für Probleme des Gemeinwohls: Die am wenigsten Gefährdeten respektieren Vorgaben nicht, solange es sich dabei lediglich um Empfehlungen handelt.

Wenn die Regierung nichts unternimmt, bleiben die egoistischen Verhaltensweisen bestehen oder verstärken sich sogar. Um die Ausbreitung des Virus zu stoppen, muss der Staat strenge Maßnahmen ergreifen und den sozialen Druck erhöhen.

Anmerkung der Redaktion: Dieser Artikel erschien im Original unter dem Titel »Mais pourquoi tant de gens sortent-ils malgré les appels à limiter les déplacements?« in der französischen Zeitschrift »Cerveau & Psycho«.

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