Metzler Lexikon Philosophie: Interpretationismus, methodologischer
Der von Lenk entwickelte Ansatz des m.n I. umfasst eine erkenntnistheoretische und eine transzendentalphilosophische Perspektive. Ausgangspunkt ist die Ansicht, dass wir keinen von der Anwendung von Schematisierungen und Schemata, also von Interpretationen und Interpretationskonstrukten unabhängigen Zugang zur Welt haben – weder in der Erkenntnis noch im Handeln. Welt ist in Weltversionen nur erfassbar, insoweit sie von unseren menschengemachten, z.B. theoretischen, oder angeborenen bzw. interaktiv, in handelnder Auseinandersetzung mit der Umwelt, entwickelten Interpretationsschemata und stabilisierten Strukturen der Anwendung von solchen (Interpretationskonstrukten) strukturiert und geformt ist. Der Grundsatz der (Schema-)Interpretationsimprägniertheit besagt: Alles Erkennen und Handeln, alles, was wir erfassen können, ist entweder interpretationsgeprägt in dem Sinne, dass es von Schemainterpretationen unmittelbar oder mittelbar erzeugt wird, oder – unter Beteiligung von »Weltentitäten« – eben imprägniert ist. Der methodologische und transzendentale I. (Interpretationskonstruktionismus) ist also eine pragmatische, erkenntnistheoretische, methodologische bzw. – weitergehend – transzendentale Gesamtphilosophie des »Erfassens« (Denken, Erkennen und Handeln, Beeinflussen sowie Repräsentieren jeglicher Art), die mit einem pragmatischen und empirischen Realismus vereinbar ist und in moderner Weise den Aktivismus der Erkenntnistheorie Kants aufnimmt und weiterführt, aber auf eine Fixierung auf absolute, einzigartige und für jedes vernünftige Wesen gleich verbindliche Kategorien verzichtet, die Schemata und Schematismen (Kant: KrV B 179 ff.) flexibilisiert, liberalisiert und auf Alltagserkenntnis sowie wissenschaftliche Erkenntnis zu beziehen gestattet. Auf abstrakter methodologischer Ebene überbrückt der m. I. die Kluft zwischen Geistes-, Naturund Sozialwissenschaften sowie den durchaus auch schemagebundenen Weisen der Alltagserfassungen. (Schema-)Interpretationen sind abhängig von Interaktion und Intervention sowie der Einbettung in bildhafte pragmatische Handlungsbezüge: »Schemainterpretationen ohne Interaktionen und Interventionen sind leer, und Interaktionen und Interventionen ohne Schemadeutung sind blind.« – Der Ansatz schließt ersichtlich modifizierend und liberalisierend an Kants Erkenntnistheorie an, aber auch an Nietzsches Interpretationsphilosophie (wie G. Abel zuerst deutlich gemacht hat). Abels Variation der Interpretationsphilosophie, die nach der Lenk’schen, aber zunächst unabhängig und später in ständiger Diskussion mit dessen m.m
I. entworfen wurde, ist zunächst weniger pragmatischrealistisch gewesen und stärker von Nietzsches Interpretationsabsolutismus geprägt, meint aber ebenfalls, dass die traditionellen ontologischen und erkenntnistheoretischen Unterscheidungen erst sekundär, in der methodologischen bzw. liberalisiert-transzendentalen Interpretationsperspektive auftreten. – Auch W. Röds problematizistisch-hypothetischer transzendentalphilosophischer Ansatz ist mit dem I. verwandt, wie auch Peirces semiotische und Cassirers symbolistische Erkenntnistheorie der »symbolischen Formen«.
Die Unterscheidung von Interpretationsperspektiven und -schichten ergibt ein Kontinuum von schematisierend-interpretatorischen Aktivitäten (Lenk), die von der Gegenstandskonstitution, Neuronenensemble-Stabilisierung, von der Welt mitbedingter Imprägnationen bis zur bewussten Konstruktion und Rekonstruktion (z.B. von abstrakten Begriffskonstruktionen) reichen. Hermeneutische Interpretationen im Sinne der traditionellen Sprachhermeneutik und der Universalhermeneutik sind Spezialfälle der umfassenderen Schemainterpretation für den Fall, dass ein »Gegebenes« in Form eines Textes oder eines zu deutenden »Etwas« bereits vorliegt. Insofern ist das Interpretieren im Sinne der Interpretationskonstrukte und der Schemainterpretationen viel allgemeiner. Verallgemeinert wird auch Wittgensteins Sprachspielmodell auf das »Modell von Schemaspielen«. Lenk versucht die Ausbildung, Etablierung und Stabilisierung von Schemata der Repräsentation, z.B. der Wahrnehmung, mit der Aktivierung und stabilisierenden Reaktivierung von Neuronenensembles i. S. der heutigen Neurowissenschaft zu korrelieren, wodurch eine erkenntnistheoretische »Wie ist möglich?«-Erklärung umrissen wird.
Um die verschiedenen Schichten des Schemainterpretierens der Interpretationskonstrukte und -prozesse zu unterscheiden, differenziert Lenk sechs Ebenen oder Stufen der Interpretation (Lenk 1993, S. 56; 1995 a, S. 103): IS1: praktisch und biologisch unveränderliche produktive Urinterpretationen (primäre Konstitutionen bzw. Schematisierungen), IS2: Musterinterpretationen, Schemahabitualisierung und vorsprachliche Begriffsbildung, IS3: sozial etablierte, kulturell tradierte konventionelle Begriffsbildungen (entweder vorsprachlich normiert oder repräsentierend sprachlich), IS4: bewusste Einordnungsinterpretationen, Klassifikation, Subsumierung, Beschreibung usw. (gezielte Bildung von Artbegriffen), IS5: begründende Rechtfertigungsinterpretationen (entweder theoretisch bzw. »verstehend« oder normativ) und IS6: erkenntnistheoretische (methodologische) Metainterpretationen (z.B. in der Interpretationskonstruktmethode selbst).
Abel unterscheidet drei Ebenen: die »ursprünglichproduktiven und sich in den kategorealisierenden Zeichenfunktionen selbst manifestierenden konstruktbildenden Komponenten« (»Interpretationen1«), denen die gewohnheitsmäßig »verankerten und habituell gewordenen Gleichförmigkeitsmuster« (»Interpretationen2«) und die »aneignenden Deutungen« (»Interpretationen3«) gegenüberstehen (Abel 1993, S. 14 f.).
Viele traditionelle philosophische Grundprobleme wie z.B. das Wahrheitsproblem (s. z.B. Abel 1989), das Referenzproblem (s. Dürr/Lenk 1995), das von Realismus und Idealismus stellen sich neu, weil es Probleme der unterschiedlichen Bezugnahme bzw. der Beziehung zwischen unterschiedlichen Interpretationsperspektiven der genannten Schichten sind. Sie sind somit in diesem methodologischen und liberalisiert-transzendentalen pragmatischen Ansatz neu zu fassen bzw. einer relativierten und differenzierten Lösung zuzuführen. Der m. I. ist in diesem Sinne ein umfassender metatheoretischer-epistemologischer Neuansatz, der manchen anderen neueren Strömungen, wie z.B. dem internen Realismus Putnams verwandt ist (vgl. hierzu Abel 1993), aber sich in mancherlei Hinsicht von diesen wiederum kennzeichnend unterscheidet und ein eigenes Gepräge besitzt z.B. mit grundlegenden indirekt-realistischen ontologischen oder auch pragmatischen Ansätzen verträglich ist.
Literatur:
- G. Abel: Interpretationswelten. Frankfurt 1993
- R. Dürr/H. Lenk: »Referenz und Bedeutung als Interpretationskonstrukte«. In: J. Trabant (Hg.): Philosophie der Sprache. Frankfurt 1995
- H. Lenk: Philosophie und Interpretation. Frankfurt 1993
- Ders.: Interpretationskonstrukte. Frankfurt 1993
- Ders.: Von Deutungen zu Wertungen. Frankfurt 1994
- Ders.: Interpretation und Realität. Frankfurt 1995
- Ders.: Schemaspiele. Frankfurt 1995 (a)
- Ders.: Grasping Reality. Singapur 2003
- W. Röd: Erfahrung und Reflexion. München 1991.
RDü/MM
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